Zeitzeugengespräch

„Wir haben Glück gehabt“ – Zeitzeugengespräch mit polnischen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft

In diesem Jahr konnte der Jahrgang E wieder drei polnische Zeitzeugen der NS-Herrschaft an
der Leibnizschule begrüßen. Tagesaktuell nahmen drei recht betagte Herren an der
Veranstaltung teil, die sich für ein Gespräch gesundheitlich in der Lage fühlten, und standen
den Schülerinnen und Schülern Rede und Antwort.
Der älteste unter ihnen war Herr Bogusław „Bodek“ Rygiel, der 1933 geboren wurde. Er kam mit
elf Jahren nach Auschwitz-Birkenau. Verhaftet wurde er im Zuge des Warschauer Aufstandes
im Jahre 1944. Er berichtete zum Tagesablauf im Konzentrationslager: 150 Jungen waren in
einer Baracke in der Nacht eingepfercht. Dort dienten dreistöckige Pritschen als Betten. Sechs
bis sieben Jungen lagen eng aneinander in einem Bett. Die Liegefläche war quasi nicht
gepolstert. Die Jungen mussten sich eine Decke teilen. Und so musste man wirklich eng
aneinander liegen, damit man es im Winter warm hatte. Drehte sich einer, mussten sich alle
anderen mit drehen. Schon alleine diese Erzählung ist für heutige Jugendliche und vorstellbar
und beweist auch schon den Schrecken des Konzentrationslagers. Damit jedoch nicht genug.
Herr Rygiel berichtete, dass um 5 Uhr der Appell war. Zwei bis drei Stunden musste man
draußen stehen, bis alle Inhaftierten des Konzentrationslagers gezählt waren. Es gab zwei
Mahlzeiten, morgens eine ganz dünne, undefinierbare Suppe, abends 200 g Brot, ein kleines
Stück Margarine und Tee. Diese Nahrung reichte zwar zum Überleben, sie war aber lange nicht
genug für einen Tag voller Arbeit. Die Kinder, auch Bodek, wurden für verschiedene Einsätze
vorgesehen. Die Arbeit, so präzisiert der ehemalige Häftling, diente dazu, die Häftlinge zu
quälen. Darüber hinaus gab es auch Strafen im Lebens- und Arbeitsalltag der Inhaftierten, die
durch sogenannte Kapos vollzogen wurden. Das waren meist Verbrecher, die von den
Nationalsozialisten im Lager eingesetzt worden waren, um die Oberaufsicht in einer Baracke
oder in einem Arbeitsbereich zu führen.
Als nächster berichtete Jacek Nadolny, Jahrgang 1937. Auch er wurde im Zuge des
Warschauer Aufstandes inhaftiert. Er kam nach Auschwitz-Birkenau im Alter von sieben Jahren.
Da Jacek Nadolny selbst keine Straftat begangen hatte, erläuterte er, dass die Inhaftierung
ganzer Familien als Kollektivstrafe dienen sollte und gewissermaßen eine
Abschreckungsmaßnahme darstellen sollte. Jacek Nadolny wurde im Zigeunerlager
untergebracht. Er sah seine Mutter ab und zu beim Duschen im Lager.
Ludwig Stanisławski war der jüngste der drei anwesenden Herren. Er war 1940 geboren worden
und das jüngste Kind einer sechsköpfigen Familie. Er kam mit vier Jahren ins
Konzentrationslager Potulice bei Bydgoszcz. Zusammen mit seiner Mutter, seinem Vater,
seinen drei Geschwistern und seiner Tante wurde er inhaftiert und blieb bis zum 21. Januar
1945 im Konzentrationslager. Verhaftet wurde die Familie, weil sein Onkel in der polnischen
Untergrundarmee war und die Familie von Nachbarn denunziert wurde.

Nach der kurzen Vorstellung der drei Herren stellten die Schülerinnen und Schüler viele Fragen,
die sie bewegt hatten. Emil wollte wissen, wie die Herren reagieren würden, würden sie Adolf
Hitler begegnen. Daraufhin antworteten alle drei Herren, dass das natürlich eine fiktive Frage
sei. Sie würden allesamt Adolf Hitler als kranken Menschen bezeichnen, da er so unfassbar
Schlechtes verursacht und getan habe. Und einer von ihnen gab zu, dass er bis ins Alter von 50
Jahren keine Berührungspunkte mit den Deutschen oder mit Deutschland hatte. Er konnte sich
also erst langsam der Vergangenheit stellen. Inzwischen fühle er sich jedoch wohl im Lande
seiner Peiniger.
Vicky stellte die Frage, warum die Herren nicht getötet worden sind, man würde doch Auschwitz
automatisch mit der Gaskammer in Verbindung setzen. „Das stimmt“, bestätigte Bodek Rygiel.
„In Auschwitz gab es nur den Weg durch den Schornstein. Aber um Spuren zu beseitigen,
wurden zum Ende der NS-Herrschaft Deportationen in andere Lager durchgeführt.“ Und so kam
Rygiel nach Blankenburg in die Nähe von Berlin. So wurde ihm der Tod erspart und er sieht es
heute als Zeichen der Hoffnung. „Wir haben Glück gehabt“, konstatiert er.
Tabea wollte wissen, wie das heutige Verhältnis der ehemaligen Häftlinge zu Deutschland
aussieht. „Das heutige Deutschland ist nicht mit dem damaligen System vergleichbar“,
antwortete Ludwig Stanisławski. „Ich mache niemandem von heute einen Vorwurf.“ Auch Jacek
Nadolny bestätigte: „Wie soll ich euch Vorwürfe machen, euch dafür verantwortlich machen,
was damals geschehen ist?“ Und Bodek Rygiel bestätigte: „Die Blankenburger und Berliner
wussten, wer wir waren. Wir waren gar nicht so isoliert, wir hatten Kontakte. Die Deutschen
erfuhren von uns von den Grausamkeiten. Sie gaben uns manchmal Brot, sie halfen uns.“
Ludwig Stanislawski ergänzte: „Es gab auch viele Deutsche, die ermordet worden sind. Sie
leisteten Widerstand. Das darf man nicht vergessen.“
Ein anderer Schüler stellte die Frage nach Fluchtversuchen aus dem Lager. Bodek Rygiel
antwortete darauf hin, dass es diese kaum gegeben habe. Wenn jemand einen solchen
Versuch unternommen hat, wurde er öffentlich hingerichtet. Man habe den Widerstand im Keim
ersticken wollen, die Menschen sollten psychisch gebrochen werden.
Janina stellte die Frage nach Menschen, die heutzutage in Polen und Deutschland die
nationalsozialistischen Grausamkeiten leugnen. Es sei traurig, dass solche nationalistischen
Sichtweisen wieder aufkämen. Die Regierungen würden keine entschiedenen Schritte dagegen
tun. Es gäbe einen deutlichen Rechtsradikalismus in Polen, berichtete Ludwig Stanislawski.
Jacek Nadolny hofft, dass die Gruppe der Rechtsextremen klein ist. Die Gedenkstätten der
ehemaligen Konzentrationslager sollten regelmäßig von Schülergruppen besucht werden, damit
die Schülerinnen und Schüler aus der Geschichte lernten.
Elisa stellte die Frage, wie es ist, mit dem erlebten Erbe umzugehen. Jacek Nadolny hat diese
Phase seines Lebens maßgeblich geprägt. Er sei kein guter Schüler gewesen, habe die Schule
nicht beendet bzw. nicht beenden können.

Eine andere Schülerin stellte die Frage, ob die drei Herren religiös seien. Bodek Rygiel bestritt
entschieden, dass es einen Gott geben könne, wenn er solche Grausamkeiten zulasse. Ludwig
Stanislawski glaubt weiterhin an Gott, aber Jacek Nadolny sagte, dass er doch an Gott und im
Glauben zweifeln würde.
Kimberly stellte schlussendlich die Frage, ob Freundschaften im Lager entstanden sind. Jacek
Nadolny hat eine solche Erfahrung nicht gemacht, da die Häftlinge ums Überleben kämpfen
mussten. Bodek Rygiel berichtet von einem Kameraden, der mit ihm zeitgleich im Lager
gewesen ist. Sie hätten sich jedoch erst später kennen gelernt, denn aufgrund der Größe des
Konzentrationslagers blieb es auch unpersönlich und anonym.
Zum Abschluss reichte die Zeit gar nicht mehr, um die vielen Fragen alle zu beantworten. Jacek
Stanisławski wollte aber noch einen Appell loswerden. Er rief den Schülern zu: „Bleibt standhaft!
Solch eine Geschichte darf sich nie wiederholen!“ Auch Ludwig Stanisławski wollte einen
Ratschlag an die Schülerinnen und Schüler loswerden, der gar nicht unbedingt etwas mit der
NS-Herrschaft zu tun hat, sondern eine allgemeine Lebensweisheit ist: „Behandelt eure Eltern
stets mit Respekt.“
Als zum Ende der Veranstaltung noch Fotos mit einzelnen Beteiligten gemacht worden sind,
blieben einige Schülerinnen und Schüler länger, um ihre persönlichen Fragen an die drei Herren
zu richten. Man spürte die gegenseitige Dankbarkeit: Die Herren waren froh, dass die
Schülerinnen und Schüler so viel von ihnen wissen wollten, aber auch schon sehr viel
Vorwissen mitgebracht hatten. Die Schülerinnen und Schüler waren hoch interessiert, den
Zeitzeugen ihre Fragen stellen zu können und ganz persönliche, individuelle Antworten zu
erhalten. Die zeigt, wie wichtig eine solche Veranstaltung für beide Seiten ist.
Der Dank der Schülerinnen und Schüler geht somit auch an den Verein „Zeichen der Hoffnung“,
namentlich Frau Daria Schefczyk und Frau Renata Gądek, die das Zeitzeugengespräch
moderiert und gedolmetscht haben. Auch dem Förderkreis der Leibnizschule gilt ein großer
Dank, da er den Verein „Zeichen der Hoffnung“ finanziell unterstützt, damit auch weiterhin die
Einladung an die polnischen Gäste erfolgen kann.


Regina Kampe
Fachschaft Geschichte